ars humana

Willkommen am Bodensee

Malina 1, Leseprobe Kap. 1-2

(Nur Text, ohne Illustrationen)



Malina und der kleine Zauberer

1. Die Begegnung

Ich bin aber nicht deine Frau, war das erste, das Malina vor einigen Tagen erschrocken und zugleich entschlossen dem kleinen, in allen Farben gekleideten Zauberer zurief, den sie schlafend auf den Steinen einer verfallenden Burgmauer gefunden und eingesteckt hatte. Was für eine seltsame Idee, wie kam sie überhaupt darauf?
Damals wusste sie natürlich noch nicht, dass es ein Zauberer, sogar ein sehr mächtiger Zauberer war. Sie hatte ihn für eine Puppe, ehrlich gesagt für eine sehr verlotterte, schmutzige Figur gehalten, die sie säubern und wieder zusammen nähen wollte. Irgendwie gefiel ihr der kleine Junge mit seinen schwarzbraunen Händen, seinem friedlich lächelnden Gesicht und seinen großen, weit geöffneten tiefblauen Augen. Sie näherte sich ihm zögernd und schaute ihn genauer an, bevor sie ihn vorsichtig an einem Hosenbein fasste, um ihn in ihre Jackentasche zu stecken. Aber halt!
So schläft kein Mensch, mit so offenen, strahlenden Augen. Ohne groß zu überlegen, hatte sie den Kleinen sogleich für etwas anderes als eine leblose Puppe gehalten, ihr Herz war ganz erschrocken, als sie ihn berührte. Atmete er etwa? Bewegte er tatsächlich seine Finger und Zehen, zuckten ganz sanft seine Lider? Und vor allem, er schlief doch nicht, oder? Niemals. Aber er war auch nicht wach. MEDITIERTE er etwa? Es konnte nicht anders sein, ihr strahlend lächelnder Zwerg war tief in eine Meditation versunken und im Augenblick sicher nicht ansprechbar. Doch was murmelt er da: Der Mond leuchtet in jeder Pfütze. Sicher, warum nicht, oder?
Blöde Kuh, sagte Malina zu sich selbst, fang ich schon an, mit verdreckten Zwergen zu sprechen? Ich finde also einen gescheckten, ziemlich scheintoten, meditierenden Gnom auf einer Burgmauer, schmutzig und verwahrlost dazu. Und ich schäme mich nicht, solchen Unsinn zu glauben? Ganz ruhig und drei Mal einatmen, vielleicht vier Mal. Und natürlich wieder ausatmen, ganz langsam.
Na ja, verurteile dich also nicht zu schnell, geh ich doch besser nochmal alles durch. Die Farben seiner zerrissenen Kleider – etwas blass und dreckig, das stimmt. Klein ist er, ja, mit Sicherheit ein Zwerg. Oder doch eine Puppe? Aber sein Herz! Es schlägt! Und seine Miene verändert sich, als träume er wilde Geschichten, und von unheimlichen Abenteuern. Dies plötzliche Erschauern, jetzt wieder das Glück in seinem Gesicht. Und nun diese Ruhe im Ausdruck. Als wäre er gerade in diesem
Augenblick gestorben. Du sollst nicht sterben, nur weil ich dich berührt und in meine Hände genommen habe. Gibt es das, dass Gnome sterben, wenn man sie an einem besonderen Ort findet und berührt? Oder ist er etwa krank? Nein, er lächelt wieder als hätte er mich gesehen und freute sich über die Begegnung. Doch schon wieder erstarrt er so, dass ich erschrecke. Schnell in die Tasche mit dieser seltsamen Gestalt.
Bis zum Abend hatte Malina das rätselhafte Wesen schon fast wieder vergessen, als ein leises Wimmern in ihrer Jackentasche sie an das Erlebnis auf der Burg erinnerte. Erschrocken blickte sie um sich ob ihr Bruder oder ihre Mutter das Geräusch auch wahrgenommen hätten. Doch dies schien nicht so, wenn es ein solches überhaupt gegeben hatte. Ich bin wohl wirklich nicht übergeschnappt, dachte sie, was für ein Glück. Ein Satz, den sie sich nicht zum ersten Mal, sondern mindestens alle 10 Minuten selber sagte, geht’s noch, bin ich spinnert oder klappert mein Gehirn? So etwa und warum? Weil ihr die Dinge in ihrer Umgebung oft so seltsam und unheimlich vorkamen, dass sie sich in die Backe kneifen musste, um aufzuwachen. Aber sie war ja wach, immer. Also war es die Welt, die anscheinend etwas verrückt und verschoben sein konnte, wenn sie nicht ganz genau hinschaute. Und dazu bin ich wohl die einzige in meiner Familie, die allzu oft erkennt, das da etwas nicht stimmen kann an dem, was man so hört und sieht.
Du kleiner Schlamper, ich werde schon herausfinden, was mit dir los ist. Vor dir habe ich keine Angst. Sie riss den Zwerg an seinen Beinen aus ihrer Tasche und warf ihn an das Kopfende ihres Bettes. Zu dir also später, dachte sie, du imponierst mir schon gar nicht. Vor kleinen Leuten wie du habe ich leider überhaupt keinen Respekt.
Todmüde sank Malina nach dem Abendessen einfach auf ihre Bettdecke, die Aufregung hatte sie doch ein wenig erschüttert. Und dabei ging es ihr nach einigen Tagen der Erkältung endlich wieder etwas besser. Jetzt aber zu dir, mein Freund. Doch bevor sie ihre Gedanken in Worte fassen konnte, spürte sie einen leichten Schlag gegen ihre Wange und wieder dies leise spöttische Lachen – da ist aber jemand mit sich selbst sehr zufrieden, dachte sie noch, ich muss es unbedingt bald sauber machen, das Dreckskind. Und schon war sie eingeschlafen.
Immer heißt es in den Geschichten: Wie lange sie geschlafen hatte, wusste Malina später nicht mehr. Aber so ist es wirklich, dachte sie ganz benommen, als sie mitten in der Nacht durch das Läuten der Kirchenglocken erwachte. Drei mal, können sie diese lauten Dinger nachts nicht mal abstellen? Obwohl, in der Regel liebte sie diesen stündlichen Glockenklang, den sie manchmal wie einen Teil ihrer Träume hörte, um dann sofort wieder einzuschlafen. Diesmal aber war es anders. Sie vernahm ein leises knarrendes Geräusch neben ihrem rechten Ohr, als ob ein Zwerg schnarcht. EIN ZWERG SCHNARCHT? Sie fuhr erschrocken in die Höhe und suchte nach dem Lichtschalter. Doch es war überhaupt nicht dunkel im Zimmer, denn der fast volle Mond leuchtete von draußen wie eine Laterne in ihre Stube. Malina war nun hellwach, sie sah, ein Strahl des Mondlichtes fiel genau auf das Gesicht des Gnomen. Nein, ihr Herz hüpfte vor Freude, solch kleine Lippen, Nasenflügel und Augen, und auch solch zierliche Hände und Finger. Der lustige Kerl bohrte doch tatsächlich in seiner Nase, betrachtete das Ergebnis genau und schnippte es dann unter ihr Kissen.
Du Ekel, entfuhr es ihr halblaut, aber das namenlose Wesen schaute ihr still und furchtlos in die Augen und der Blick sagte ihr deutlicher, als alle Worte, ich hab dich lieb.
Na warte, du. Es war ganz still im Raum, Malina saß aufrecht und der Zwerg blickte sie stumm an.
Also, hörte sie schließlich eine leise Stimme. Er räusperte sich und sprach noch einmal, diesmal deutlicher: Also, ich bin der große Magier dieser Burg.
Malina wäre fast rückwärts vom Bett gefallen, sie bekam einen Lachanfall, von dem sie sich kaum beruhigen konnte. Wenn du ein großer Magier bist, dann bin ich die alte weise Frau dieser Stadt. Und als alte weise Frau weiß ich, dass du ein verlogener, kleiner und schlampiger Kerl bist, den ich von der Burgmauer gerettet habe.
Ohne es zu bemerken, hatte Malina sich tatsächlich auf ein Gespräch mit dem Kleinen eingelassen. Sagen wir mal so, groß bist du wirklich nicht, eher etwas klein, oder? Sie musste leise schmunzeln über diese offensichtlich wahre Bemerkung.
Und du bist eine Klugscheißerin, die überhaupt nichts weiß. Die äußere Erscheinung ist doch meist nur eine Täuschung, oder hast du noch nie in der Nacht vor einem Monster Angst gehabt, das am Ende nur ein Schatten war? Aber ich will ehrlich sein, ich glaube, weise bist du schon – er lachte hell auf, während sie ihn fassungslos anschaute -, deine Seele ist nämlich ganz schön alt. Und ich bin schon ziemlich groß, weißt du. Das können aber nur die Augen von – na, was meinst du?
Kindern sehen? Schmeichler, entfuhr es ihr, ein schöner Spruch. Aber bin ich etwa kein Kind, und warum kann ich deine wirkliche Größe nicht sehen?
Vielleicht willst du es noch nicht, weil du weise und gütig und höflich bist …
Moment, so nicht, du willst mir wohl einreden, dass ich aus Höflichkeit nichts anderes in dir sehe, als was da vor mir steht. Aber so ist es doch, du bist so, wie du mir erscheinst, nämlich ziemlich klein und damit basta.
Oder weil du Angst hast vor mir?
Malina kugelte fast von ihrem Bett herunter auf den Boden. Im letzten Moment hielt sie sich an der Bettdecke fest, was ihr jedoch auch nicht viel helfen konnte. So lag sie nun da auf den Holzdielen und streckte ihre Glieder in die Höhe wie ein hilfloser Käfer. Ich Angst vor dir? So ein Schmarrn. Du solltest Angst vor mir haben. Du kennst mich wohl noch nicht, mein Brüderchen Mateo könnte dir da einiges erzählen.
Wenn man Angst hat, erzählt man oft die tollsten Sachen, um sich von dem furchtbaren Schrecken abzulenken. Ich will dich aber nicht erschrecken, meinte der Kleine.
Du kannst dich beruhigen, mich hat noch nie etwas weniger erschreckt, als du.
Hm, setzte er den vorigen Gedanken fort. Ein Magier bin ich vielleicht wirklich nicht, nicht so, wie ich andere Magier kenne. Vor denen solltest du dich besser doch fürchten, denn das mögen sie überhaupt nicht, wenn man keine Angst vor ihnen hat. Als Magier könnte ich schließlich auch nicht dein Freund sein.
Freund, dachte sie. Sind wir schon so weit, haben wir etwa Freundschaft geschlossen? Habe ich überhaupt den Gedanken Freund auch nur einmal dir gegenüber erwähnt, du schmutziger Zwerg? Verzeih, aber schmutzig bist du wirklich, und Zwerg, na du weißt schon.
Er unterbrach sie. Freunde ist das mindeste, was wir füreinander sein sollten, ist wenigstens meine Meinung. Und überhaupt, glaub doch nicht, dass du deine Gedanken vor  mir verbergen könntest, gib dir erst gar keine Mühe.
Selber, dachte Malina.
Selber, antwortete das Wesen. Und beide lachten, weil das Gespräch über Freundschaft so sinnlos war. Natürlich waren sie Freunde, das war ihr im ersten Augenblick klar gewesen. Aber er sollte sich nur nichts darauf einbilden.
Also was nun, bin ich ein Magier, wenigstens ein kleiner großer Magier?
Das weiß ich doch nicht. Was ich aber weiß ist, du bist ein Dreckskind, ich hab es immer schon gesagt. Malina wurde fast wieder wütend, weil er sie nicht ernst zu nehmen schien. In ihrem Herzen war sie jedoch ziemlich unsicher, seltsam berührt von der Unterhaltung.
Dreckskind darfst du nicht sagen, meinte der Zwerg. Es hat sich so lange niemand um mich gekümmert, da kann so etwas vorkommen. Aber lenk nicht ab. Magier?
Malina blieb eine Weile stumm, ihr Herz pochte ein wenig zu schnell und eine seltsame Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Nein, niemals, sagte sie schließlich, oder kannst du es etwa beweisen?
Kann ich. Er schwieg lange.
Kannst du also nicht.
Der Blick des Kleinen hatte inzwischen etwas fast Flehendes bekommen, er sprach nicht mehr, sondern schaute sie nur recht unglücklich an.
Hat der sich etwa in mich verguckt, dachte Malina halb erschrocken? Macht nichts, kann vorkommen. Ich bin wenigstens eiskalt, wenn er mich fragt. Aber dann fühlte sie plötzlich in ihrem Innern, woher auch immer, eine leuchtende Welle der Ruhe und sie fühlte sich auf einmal ganz großzügig und gelassen ihm gegenüber. Es ist doch nicht wichtig, was ich von dem Schelm denke, lasse ich ihm sein Vergnügen er soll sein, was er möchte. Wirklich? Es war so schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, denn bevor sie nun sich entschloss, seinen Wunsch zu erfüllen, spürte sie wieder diese Fremdheit und das Rätsel, das von ihm ausging. Nein, dachte sie, du bist ein Schlamperkind, kein Magier. Dennoch, sie musste es zugeben, er hatte sie ein wenig verzaubert und berührt, eigentlich sogar ziemlich stark. Und er hatte dabei ihren Herzschlag beschleunigt wie bei einem aufregenden Ereignis, das hatte sie immerhin schon manchmal erlebt. Eine Schulaufführung, ein Vorsprechen oder eine Prüfung waren zwar nicht das gleiche, aber auch da hatte sie dies Herzklopfen erlebt. Diesmal aber war es eine Begegnung, nun ja, nur mit einem Zwerg. Aber aufregend allemal.
Also damit du Ruhe gibst, du Findelkind. Groß bist du wirklich nicht, ich müsste lügen, wenn ich das sage. Sondern klein, ziemlich klein, wenn du einverstanden bist. Und ein Magier? Das soll glauben, wer will. Aber vielleicht verzauberst du Menschen, wie mich? Dann wärst du vielleicht ein Verzauberer? Ein Freundschafts-Verzauberer? Ach, ich weiß nicht, das klingt so komisch. Ein Liebe-Zauberer? Hast du nicht selbst gesagt, dass du verliebt bist? Aber doch nicht etwa in mich? Bevor sie diesen Gedanken richtig zu Ende gebracht hatte, wischte sie ihn energisch aus ihrem Kopf, kindisch, dann müsste ich ja auch … Nein, auf was man alles kommt. Aber gut, du sollst deinen Willen haben, ja, genau betrachtet bist du wohl ein Zauberer, von was auch immer. Aber – ein kleiner Zauberer.
Der Gnom blickt sie wieder lange und ruhig an, sein Blick war fast kühl und ein wenig spöttisch und er schien aus einer unendlichen Weite zu kommen. Sie ließ sich hinein ziehen in grenzenlose, wie himmlische Landschaften, sie sah – träum ich? - in ein unfassbar sanftes, strahlendes Licht. Tatsächlich. Aber vor ihr saß ein eben doch noch quengelndes, schmutziges Wesen mit verschmiertem Gesicht? Und nun das?
Nun gut, sprach er endlich, ein  k l e i n e r  Zauberer. Nicht schlecht für den Anfang, obwohl du nicht weißt, was für eine Beleidigung das für mich sein könnte, wenn ich nicht so geduldig wäre. Er nickte vor sich hin, dann eben ein kleiner Zauberer.
Aber glaub ja nicht, ich werde jemals deine Frau. Wenn das deine Absicht ist, dann hast du mich vergeblich um den Finger gewickelt. Sie stellte sich kichernd vor, wie das aussähe, wenn der Zwerg sie packte und um seinen Finger wickelte. Dann eher umgekehrt, dachte sie und diese Vorstellung machte ihr einen Riesenspaß.
Warum sie das gerade gesagt hatte, wusste sie selber nicht, er hatte sie doch überhaupt nicht gefragt. Doch sie spürte tief in ihrem Innern wieder diese wunderbare, sie einhüllende Wärme. Und sie dachte, sicher ist sicher. Man weiß ja nie. Und was die Leute denken. Und überhaupt würde ich nie einen Zwerg heiraten.

2. Gespräche und Kennenlernen

Die Mondscheibe war schon lange hinter den Wolken im Westen verschwunden, die ersten Sonnenstrahlen wanderten zögernd und tastend durch das Zimmer. Malina betrachtete die goldenen Flecken auf der Wand, die ihre Form und ihre Helligkeit ständig veränderten. Ihre Gedanken waren hellwach, aber ihr Körper wollte ihr noch nicht recht gehorchen, ihr schien, als fesselten ihre Arme, Beine und Schultern sie wie mit einer schweren Last auf das Lager. Neben ihrem Gesicht spürte sie erneut die Anwesenheit von etwas Lebendigem, vielleicht ihre Katze oder – das war nicht der Blick eines Tieres, der auf ihr ruhte. Sie konnte oder wollte ihre Augen nicht auf dieses Ding richten, von dem sie nur zu genau wusste, dass es ihr nichts als Ärger bringen konnte. Und sie wusste ebenso, dass es sie anstarrte, gelassen, unbewegt, wie der Blick einer steinernen Statue. Aber dieser Blick war gleichzeitig lebendig, unendlich ruhig, dabei durchdringender und wacher als jedes Angeschautwerden, das sie kannte.
Mach du nur, was du willst, ich bin, wie du sicher bemerken dürftest, überhaupt nicht hier. Sie grinste zufrieden über diese ziemlich sinnlose und damit eigentlich überflüssige Bemerkung und schloss ihre Augen wieder. Aber der Blick war immer noch da, vielleicht intensiver als zuvor.
Du unselige Zwergenbrut – Malina spürte wieder einen leisen Zorn in sich aufsteigen – du glaubst wohl, mir zu imponieren? Gleich aber entschuldigte sie sich in Gedanken bei dem unbekannten, fremden, etwas unheimlichen und doch zugleich zauberhaften Wesen. Ja richtig, das war es, du bist ja ein Zauberer, mein kleiner Zauberer. Vor Schreck über diese Erkenntnis streckte Malina plötzlich alle Viere von sich, als ob sie sterben müsste. Dann aber setzte sie sich ebenso plötzlich gerade auf, die Augen weiterhin geschlossen.
Es gibt dich, es gibt dich nicht, es gibt dich … Sie zählte an ihren zehn Fingern im Wechsel ab und war erleichtert, als ihr rechter kleiner Finger zu dem Ergebnis führte: es gibt dich nicht. Das wäre ja noch schöner, dachte sie, Puppe, Zwerg, ein Gnom, der meditiert, ein winziger Zauberer, der sich für einen großen Magier hält. Sie ließ sich erleichtert wieder nach hinten fallen.
Bist du endlich fertig? Der zweite Schreck ließ sie gleich wieder in die Höhe fahren. Am liebsten hätte sie nach Mama um Hilfe gerufen. Aber was sollte sie ihr erzählen? Bestimmt gab es dann nichts zu berichten und der freche Kerl stellt sich einfach tot. Sie traute ihm alles zu. Eine lumpige Puppe war er, die behauptete, lebendig und ein großer Magier zu sein. Nun gut, ein kleiner Zauberer, schlimm genug.
Fertig, gnädigste Herrin? Du weißt, dass ich deine Gedanken lesen kann.
Ihr entging nicht die perfide Ironie in seinen Worten. Untersteh dich, wer meine Gedanken liest, geht auf einem schmalen Pfad. Das hatte sie einmal so ähnlich von ihrer Mama gehört, es gefiel ihr. Dem hab ich's gegeben, war sie sich sicher.
Ein helles Lachen kam von der Seite. Deine Mama kann dir gerade wenig helfen, du musst schon auf dich selbst bauen und mit mir vorlieb nehmen.
Bauen was? Mit dir? Sie war ganz verwirrt. Jetzt schlägst aber 13. Wieder so ein dummer Spruch – konnte sie denn gar nichts Vernünftiges mehr denken?
Du redest, wie du es verstehst, nämlich rein überhaupt nichts. Aber hör mal das! Und tatsächlich, in diesem Augenblick schlugen die Glocken der nahen Kirche – eins, zwei, sie hörte kaum hin. Was willst du damit sagen? meinte Maliina. Hör doch zu: elf, zwölf - dreizehn Mal. Malina brauchte eine Weile, die dreizehn aber vernahm sie mit zunehmendem Entsetzen, ein kalter Schauer lief ihr von den Schultern bis zu den Zehen. Für eine Weile konnte sie keinen Gedanken fassen, sie sprach kein Wort. Dann aber überlegte sie, wie sie diesen Spuk beenden könne. Sie fasste ihren ganzen Mut zusammen und schaute zur Seite, dem Kerl würde sie jetzt ihre Meinung sagen.
Nichts, niemand.
Na also, da hat mir meine Fantasie wohl gründlich einen Streich gespielt. Ab jetzt will ich wieder vernünftig sein, auf der Stelle, sofort und für immer. Liebe große Malina,
bitte sei vernünftig und mutig. Ja, Mut brauchte sie. Aber das Kitzeln an meiner Fußsohle kann ja nur von Momo kommen, die versteckt sich gerne dort. Und jetzt Schluss mit den Scherzen, hörte sie sich noch murmeln, bevor sie erschöpft zurück in einen leichten Schlummer fiel.
Der kleine Zauberer nutzte diesen Moment, um das Mädchen etwas gründlicher kennen zu lernen und begann, seine Retterin zu erkunden. Er betrachtete sie zunächst aus einiger Entfernung und war, wie schon früher oft, von ihrer makellosen und doch  schlichten Schönheit überwältigt. Früher? Der kleine Zauberer musste bei dem Gedanken schmunzeln: Natürlich kannte er sie schon seit langem, ja, das würde er ihr wohl noch erklären müssen. Menschen sind so unaufmerksam und vergesslich, brummte er vor sich hin. Ihr Gedächtnis ist wie ein Sieb, nein, eher wie ein großes Loch im Boden, in dem alles spurlos verschwindet. Na gut, du wirst es schon erfahren, wenn ich erst mal auspacke. Dann sehen wir weiter. Puh, ich ein Dreckskind und Schlamper. Ich kann es immer noch nicht fassen. Du machst es mir wirklich schwer.
Der kleine Zauberer begann seine Reise über das schlafende Mädchen. Schon der Weg von den Fußspitzen über das linke Bein hin zum Rücken war eigentlich eine für ihn ziemlich lange Strecke, die der kleine Zauberer jedoch in einem kurzen Augenblick bewältigte. Der Rücken, die Schultern und die Arme – hm, sie schläft doch tiefer, als ich dachte. Vorsichtig stellte er seine Füße auf die eine Schulter von Malina, betrachtete ihr ebenmäßiges, von langen, schwarzen Haaren umhülltes Gesicht. Der Mund, die Nase, die weichen Augenbrauen und die Wangen, schließlich die hohe Stirn. Potztausend, er erschrak fast vor diesem Anblick und davor, ihr so nahe zu sein. Wie zufällig ließ er eine Hand über ihre Lippen gleiten, legte sein Ohr neben das ihre und erbebte noch einmal heftig, als Malina sich reckte und auf die andere Seite drehte. Doch sie schlief weiter, während der kleine Zauberer mit einem Satz in die hinterste Ecke des Zimmers gesprungen war. Was ihn allerdings nur den winzigen Augenblick eines entschlossenen Gedankens kostete. Hier rollte er sich zusammen und schlief – nach den Aufregungen der letzten Stunden – ebenfalls ein.
Malina musste heute nicht in die Schule sie war noch ein wenig geschwächt von einem Unwohlsein. Doch sie fühlte sich schon deutlich gestärkt, als sie wenig später endgültig erwachte.
Keine Spur vom kleinen Zauberer. Malina war erleichtert, dass sich die Erlebnisse der letzten Stunden wohl doch als Einbildung und Fieberfantasien herausstellten. Und dennoch spürte sie eine tiefe, an ihrem Herzen ziehende Traurigkeit. Sie war, das sagte ihr eine tief in ihrem Innern verborgenen Stimme, dem kleinen Zauberer wirklich begegnet, das stand fest. Sie hatte ihn von der Burgmauer mitgenommen, in ihre Tasche gesteckt und irgendwann, nach seltsamen, ja unverschämten
Gesprächen in die Zimmerecke geworfen. Unverschämt? Vielleicht waghalsig und aufdringlich? Oder doch mit einer Spur einer ihr tief vertrauten Klarheit und Weisheit, die sie selbst niemals in sich vermutet hatte. Woher auch. Nachdenklich forschte sie in ihren Gedanken nach etwas, das wie Klarheit oder Weisheit sein konnte. Nichts, da war überhaupt nichts klar oder weise, sie fühlte sich nur ziemlich durcheinander, so durcheinander, wie schon lange nicht mehr. Doch eines stand fest: er war fort. Wer sollte sich jetzt um den in seiner Traurigkeit und Verlorenheit gefangenen kleinen Zauberer kümmern? Sie fühlte sich inzwischen doch ein wenig verantwortlich ihm gegenüber, schließlich hatte er sie auf andere Gedanken gebracht. Neue Gedanken und gar nicht so schlechte. Und war er nicht überhaupt mit ganzer Absicht gerade zu ihr gekommen, hatte ihr sein Herz ausgeschüttet – oder sie ihm? Aber hatte er eigentlich ein Herz? Ich will nicht schon wieder gemein sein, aber sie wusste es nicht, nichts wusste sie mehr, alles war so neu und unwirklich geworden. Auf jeden Fall hatte sie ihn enttäuscht! Ach was, wenn es ihn überhaupt gibt?
Malina beruhigte sich ein wenig, aber in ihrem Innern wusste sie, dass sie nicht recht hatte. Sie blickte sich um. Das einzige Lebewesen in ihrer Nähe war Momo, die schwarze, gelangweilte Katze, die unschuldig auf dem Fensterbrett lag und schnurrte.
Du alter Mäusefänger, hast du meinen kleinen Zauberer vielleicht gesehen oder ihn sogar fortgeschleppt? Bei diesem Gedanken regte Malina sich gleich wieder furchtbar auf, was nicht verwunderlich sein mochte. War sie doch ein entschlossenes, zwar ruhiges, aber wenn nötig auch cholerisch aufbrausendes Mädchen. Sie packte Momo ohne Vorwarnung am Kragen, schüttelte das Tier, dass es aufheulte und mit einem großen Satz durch die angelehnte Tür verschwand. Rotzbengel, entfuhr es ihr noch, da …
Na endlich, ich dachte schon, du wachst nie wieder auf. Ich mag Kinder, die ständig und lange schlafen, nicht. Es gibt so viel zu erleben und zu erzählen. Obwohl ich auf dir von unten bis oben rumgetrampelt bin – wenn es dir nichts ausmacht -, bist du nicht einmal wach geworden.
Der kleine Zauberer saß mit einer komischen Würde aufrecht auf ihrem Kopfkissen, inzwischen jedoch noch mehr zerrissen und zerzaust also vorher. Momo hatte ihn doch nicht etwa – der Gauner! Der Zwerg aber grinste heimlich vor Vergnügen, ihm hatte die Jagd wohl nichts ausgemacht. Nun schien er allerdings zu einer längeren Schimpftirade ansetzen zu wollen, doch Malina unterbrach ihn ungeduldig, dir glaube ich ohnehin nichts mehr. - Sei also still, fuhr sie ihm dazwischen, ist ja schön, dass du wieder da bist. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder böse auf ihn sein sollte. Während er eine fragende Grimasse schnitt, bemerkte sie, wie ihre Anspannung nachließ. Ihm war offensichtlich nichts geschehen, auch hatte er seine etwas übertriebene, aber auch liebenswerte Schlagfertigkeit nicht verloren.
Du denkst, Momo - kam es von ihm. Der hab ich's gezeigt, die legt sich nicht mehr mit Zauberern an, egal, ob groß oder klein.
Ach so, du Zauberer, du kleiner Zauberer, dir ist natürlich niemand überlegen. Du großer, kleiner Zauberer.
Er nickte heftig, hielt dann jedoch inne und klagte mit leiser Stimme: Du nimmst mich nicht ernst. Sie nimmt mich also wirklich nicht ernst. Er warf sich auf den Rücken und mit ersterbendem Flüstern kam es immer wieder, sie nimmt mich nicht ernst, sie nimmt mich …
Lass es gut sein, Kleiner. Malina war zu Tränen gerührt und wusste zugleich nicht, ob sie lachen sollte. Sie legte sich mit dem Gesicht neben den reglos ausgestreckten kleinen Zauberer, küsste ihn vorsichtig auf den winzigen, leise bebenden Nasenflügel.
Willst du mein Geheimnis wissen, schnaufte es fast unhörbar neben ihr? Ich bin verliebt. Aber wenn ich verliebt bin, verliere ich meine Zauberkraft. Sagt wenigstens mein Großvater.
Du bist nicht ganz bei Trost. Ja das ist es. Verliebt, dass ich nicht lache. Aber es war ganz still neben ihr geworden. Er scheint es ernst zu meinen. Das ist nicht dein wirkliches Geheimnis, schimpfte sie mit ihm. Du willst mich veralbern, damit du es mir nicht sagen musst. Aber du kannst es ruhig für dich behalten. Interessiert mich nicht. Und dass du verliebt bist, schon gar nicht. Das glaubte sie ganz fest.
Der kleine Zauberer aber lag wieder da wie am Anfang, in tiefer Meditation mit strahlenden Augen. Der ist bekloppt, dachte Malinda, ich muss es einfach so sagen. Dann aber wagte sie es, ihm tief in die so weit offenen Augen zu schauen. Seltsam, dachte sie noch, sie spiegeln überhaupt nichts, auch nicht mein Bild. Sie scheinen eher wie Fenster und ich sehe den Himmel, die Sterne, unendliche Räume.
Noch nicht, so weit sind wir noch nicht, hörte sie die ernste Stimme des kleinen Zauberers von ihrer Schulter her. Erst müssen wir uns noch besser kennenlernen. Warum lachte er wieder? Nie konnte er einfach mal ernst sein. Wir müssen unsere Herzen prüfen, ob sie den Mut haben, sich einem anderen Herzen wirklich zu öffnen und zu nähern. Glaub nicht, dass dies eine gewöhnliche Aufgabe ist. Warum gibt es denn wohl so viel Unverständnis, Streit und Fremdsein unter den Menschen, wenn es nicht ihre Herzen wären, die sie voreinander verschlossen hielten? Mein Herz etwa brennt oft wie eine Sonne, ob du es glaubst oder nicht – du Prahler, entfuhr es Malina. Nach kurzem Bedenken gab sie jedoch zu, auch mein Herz schlägt und schmerzt manchmal wie ein brennendes Feuer. Aber bei dir muss
wohl alles gleich mit dem Universum zu tun haben. Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner, bitte, für mich, du Lieber?
Das war der reine Hohn, spürte sie selbst und er natürlich ebenso. Der kleine Zauberer murmelte etwas Unverständliches, dumme Göre oder peinliche, falsche Zicke. Sie überhörte es wohl am besten und er schwieg, verstimmt, wie es schien. Aber in  Wirklichkeit war er mit etwas ganz anderem beschäftigt. Sie sah, wie seine Brust durchsichtig zu werden schien, eine Feuerkugel drehte sich darin wie rasend um sich selbst, wurde größer und größer. Das sanft wärmende Licht umfasste inzwischen seine ganze Gestalt, wuchs weiter und hüllte nun auch Malina vollkommen ein. Ihr wurde schwindelig, sie schien in dem Licht zu schweben und der kleine Zauberer trug sie nun tatsächlich mühelos auf seinen Händen, seine eigene Gestalt schien sich dabei mehr und mehr in die Höhe auszubreiten, hoch über der Erde leuchtete sie in allen Farben. Sein Blick erinnerte sie an lebendig schimmernde, durchsichtig klare Smaragde, sie konnte ihre Augen nicht davon lösen.
Lass sie noch schlafen, hörte Malina Mama zu ihrem Bruder Mateo sagen, sie schläft sich gesund. Nur diese komische Puppe, wo hat sie das schmutzige Ding wohl wieder gefunden?
Momo jagte wie ein Blitz durch das Zimmer, schlug ihre Krallen in den Vorhang, sprang unter das Bett und verschwand zuletzt hinter dem Ofen, so dass Mama bei der Verfolgung der Katze gleich wieder vergaß, den Lumpenkasper in den Müll zu werfen.
Und das ist gut so, dachte der kleine Zauberer, was für ein Glück, dass ich mich rechtzeitig wieder klein gemacht habe. Schnelligkeit hat doch mit Hexerei zu tun, überlegte er zufrieden. Du Herzensmädchen, dachte er dann weiter, wie schwer ist es doch, mit kleinen Menschen vernünftig zu sprechen. Aber richtig, auch du bist KLEIN, kleine Malina. Wenigstens darin haben wir etwas gemeinsam. Aber du wirst einmal groß sein und dann willst du  sicher nichts mehr von mir wissen. Du willst ja jetzt schon nichts von mir wissen, oder? Vielleicht doch, ein wenig, ein ganz ganz kleines Wenig? Oder vielleicht ein großes Wenig? Was ist überhaupt der Unterschied zwischen einem kleinen Wenig und einem großen Wenig? Der kleine Zauberer war etwas verwirrt, darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Eine Weile verbat er sich, weiter zu denken, er hielt die Gedanken wie seinen Atem an. Wenn ich ehrlich bin, ging es ihm langsam durch den Kopf, dann bist du im Grunde eine recht große kleine Malina. Und ich ein recht großer kleiner  Zauberer. Nur dass sie es leider noch nicht weiß. Wie nun, ein klein wenig großer kleiner Zauberer – oder doch ein groß wenig großer kleiner Zauberer? Alles drehte sich in seinem Kopf, ein solcher Schwindel war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht geschehen. Ist das denn so wichtig? fragte er sich. Die Hauptsache ist doch, ich bin noch gesund und an einem Stück und Momo hat mich nicht gefressen. Ich muss wirklich besser aufpassen.
Malina dämmerte den Vormittag über halbwach vor sich hin, mit der linken Hand hatte sie den kleinen Zauberer an den Schultern gepackt und hielt ihn fest umklammert. Du kommst mir nicht mehr aus, auch wenn du ein lausiger Bengel bist. Schön bist du zwar nicht und nicht neu, aber doch etwas Besonderes. Ich krieg dich schon wieder hin. Plötzlich knurrte es leise, aber bedrohlich neben ihr, wie von einem kleinen bissigen Tier. Doch als Momo Anstalten machte, auf das Bett zu springen, wurde aus dem Knurren ein gellender Pfiff, der Momo wieder mit einem langen Satz hinter dem Schrank verschwinden ließ. Auch Malina war aufgeschreckt, sie sah das verzerrte, angespannte Gesicht des kleinen Zauberers neben sich. Bist selber schuld, dachte sie, wer so klein ist wie du, sollte keinen Streit mit meiner Katze beginnen. Mistvieh! schrie sie jedoch umso  lauter, verschwinde und lass meinen kleinen Zauberer in Ruh.